Auf der Abschlusskundgebung referierte Klaus Fuhrmann, Mitarbeiter der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Ahrensburg, über den Engel der Kulturen und der Historiker Dr. Harald Schmid hielt einen Vortrag über den Sinn von Gedenkveranstaltungen anlässlich des 9. Novembers.
Engel der Kulturen
Der „Engel der Kulturen“ ist eine Bodenintarsie. Sie wurde am 26. April 2013 auf dem Rathausvorplatz verlegt und ist ein Symbol für Integration und für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in unserer Stadt und in der Welt.
Sie setzt damit zugleich ein Zeichen gegen Intoleranz, Vorurteile, Ausgrenzung, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Fremdenangst, Rassismus und Rechtsextremismus.
Künstlerische Idee und Ausführung: Carmen Dietrich und Gregor Merten.
Der Engel Kulturen ist ein Kunstprojekt zur Förderung des interkulturellen Dialogs und Zusammenlebens. Es ist keine religiöse Absicht damit verbunden. Weltweit wurden inzwischen weit über hundert Engel-der-Kulturen-Bodenintarsien an exponierten Orten von den beiden Künstlern und engagierten Bürgerinnen und Bürgern verlegt.
www.engel-der-kulturen.de
Die Initiative zur Verlegung der Bodenintarsie „Engel der Kulturen“ und damit der Impuls für eine Sensibilisierung und wirkkräftige Auseinandersetzung aller Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt mit den genannten Themen ging 2012 von Hans Peter Weiß, dem Gründer des NetzWERK Migration & Integration Ahrensburg, aus.
Engel kommen in allen Kulturkreisen vor. In dem Symbol des Engels der Kulturen stehen die Zeichen der drei abrahamitischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam, also Stern, Kreuz und Halbmond, stellvertretend für alle Kulturen und Religionen der Welt. Die Symbole tauchen nur halb aus dem umgebenden Ring auf, die komplette Form eines Engels wird erst durch die innere Wahrnehmung des Betrachters sichtbar. Auch die in den Zeichen erkennbaren geometrischen Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis versinnbildlichen die Vielfalt aller kulturellen Erscheinungsformen.
Der Engel der Kulturen ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Gang des Erinnerns in Ahrensburg. Er will uns heute und immer wieder erinnern und ermutigen, dass wir im Hier und Jetzt und in Zukunft deutliche Zeichen gegen Intoleranz, Vorurteile und Ausgrenzung, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Fremdenangst, Rassismus, Hass und Rechtsextremismus setzen und uns für ein friedliches und tolerantes Zusammenleben in gegenseitigem Respekt stark machen sollen. Wir sind damit nicht allein, es ist das Anliegen aller Menschen guten Willens, das Zusammenleben in diesem Sinn zu gestalten. An dieser Stelle des Gangs des Erinnerns und der Ermutigung für mehr Mitmenschlichkeit und gegenseitige Akzeptanz wendet sich der Blick von dem würdigenden Erinnern an die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft hin zu den Herausforderungen und Aufgaben der Gegenwart und zu den Perspektiven für ein gelingendes Miteinander.
Gedenken und Erinnern – warum, wozu?
Beitrag von Dr. Harald Schmid zum Gang des Erinnerns Ahrensburg am 9. November 2021
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir erinnern heute an ein Ereignis, das vor 83 Jahren in diesem Land ge-schah. 83 Jahre – das ist ein ganzes Menschenleben. Wer die brutale staatliche Verfolgung in den Tagen und Nächten um den 9. November als Erwachsener erlebt hat, ist heute, sofern sie oder er noch lebt, über hun-dert Jahre alt. Wir können fast niemanden persönlich mehr fragen: Wie war das im November 1938? Kurzum, wir sind gewissermaßen zunehmend alleine mit dieser Vergangenheit – wir, die Nachgeborenen. Das verändert die Erinnerungskultur, das verändert auch das öffentliche Gedächtnis. Und so drängen sich Fragen auf:
Wo stehen wir heute? Warum sollen, warum wollen wir erinnern? Wozu bemühen wir uns, die NS-Zeit immer wieder ins Gedächtnis zu rufen? Wir tun dies mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, nach einem beispiellosen militärischen, poli-tischen und moralischen Zusammenbruch dieses Landes, nach der Befrei-ung vom Nationalsozialismus. Wir tun dies auch mit dem Wissen um un-gezählte Versäumnisse und Skandale der sog. Vergangenheitsbewältigung und mit dem Wissen um viele Jahrzehnte schwieriger, immer wieder kont-roverser Auseinandersetzungen über die Bedeutung der NS-Zeit, die dazu geführt haben, dass es heute einen weitreichenden Konsens gibt, den Na-tionalsozialismus immer wieder zu vergegenwärtigen, diese kritische Ge-dächtnispflege als zentralen Teil unseres Selbstverständnisses zu begrei-fen und zu praktizieren.
„Nie wieder!“ Das ist der Leitspruch mit Ausrufezeichen, der alle und alles verbindet, was in dieser Gesellschaft geschieht zur kritischen Auseinan-dersetzung mit Nationalsozialismus, Verfolgungsverbrechen, Widerstand, Weltkrieg und Völkermord. Doch ich frage mich: Ist es immer so klar, was „nie wieder“ bedeuten soll? Gewiss, kein ernstzunehmender Mensch for-dert eine Diktatur, kein moralisch und politisch zurechnungsfähiger Mensch will staatliche Diskriminierung von Minderheiten, Verfolgung, Mord oder einen neuen Weltkrieg. Aber welche Kraft hat das „Nie wieder!“ ei-gentlich noch, wenn wir in den Jahrzehnten seither längst schon wieder weitgehend passive Zuschauer ähnlicher Verbrechen waren und sind? Man denke an den Massenmord in Indonesien Mitte der sechziger Jahre, oder an den Genozid auf den Killing Fields im Kambodscha der siebziger Jahre, man denke an den Völkermord in Ruanda vor den Augen der Weltöffent-lichkeit im Jahre 1994 oder an das brutale Abschlachten Hunderttausender in Syrien seit 2014. Angesichts solcher Verbrechen wird aus dem Ausrufe-zeichen hinter dem „Nie wieder“ ein beunruhigendes Fragezeichen:
Soll das „Nie wieder!“ nur innerhalb der nationalen Grenzen gelten? Sozu-sagen nach der Logik, dass Deutschland für diese Verbrechen verantwort-lich war und innerhalb seiner Staatsgrenzen niemals wieder etwas Ähnli-ches geschehen darf? Ja, natürlich, das war und ist die Staatsräson der zweiten deutschen Demokratie. Aber können wir in einer Zeit globaler Vernetzung die Schreckensnachrichten und Schreckensbilder von den Tat- und Leidensorten unserer Epoche wirklich so elegant wegschieben? Kommt hier eine auf konkrete politisch-moralische Folgen zielende Erinne-rung an ihre Grenzen? Bereits der Hinweis auf Israel bringt diese nationale Verengung ins Wanken.
Ich glaube, aus den Verbrechenstatsachen als solchen lernt man wenig: Was sollte man denn aus den bis heute so schwer fassbaren Orten wie Belcec, Sobibor, Treblinka und Majdanek lernen – Orte, die nur entstan-den sind, um hunderttausende von Menschen von dieser Erde zu tilgen?
Diese dunkelsten Orte der Menschheitsgeschichte stehen am Ende einer langen Handlungskette. Können sie mehr als moralische Fassungslosigkeit und Verzweiflung an den negativen Möglichkeiten des Menschen auslösen? Ich glaube, wir müssen immer wieder an den Anfang der Handlungskette zurückkehren, auch im Erinnern. Tatsächlich sind die Lernpotenziale weit-aus größer, wenn man sich mit Krisen der Demokratie befasst, denn das „Nie wieder!“ ist ja nur aussichtsreich, wenn politisches Handeln etwas bewirken kann. Nach der Errichtung einer Diktatur ist es für vieles zu spät.
Deshalb die Parole: „Wehret den Anfängen!“ Sie geht auf die Weimarer Republik zurück, auf die Erfahrungen mit der gescheiterten ersten deut-schen Demokratie. Anfänge von Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus, Anfänge politischer Gewalt, Anfänge staatlicher Repression. Was zum Bei-spiel bedeutet in diesem Zusammenhang der 4. November 2011? An die-sem Tag, heute vor fast genau zehn Jahren, haben wir erstmals von der Existenz des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds erfahren, kurz NSU. Eine rechtsextremistische Terrorzelle, deren Mitglieder neun zugewanderte Männer und eine Polizistin ermordet haben; diese grausige Vereinigung hat 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübt. (Übrigens, von den vielen Verletzten etwa des sog. Nagelbomben-anschlages 2004 in Köln wird sehr selten gesprochen.) Die Erkenntnis die-ser rechtsextremen Terrorserie hat die Republik getroffen wie der Ein-schlag eines unerwarteten Komets – obwohl es weiß Gott nicht der Beginn dieses Terrors war. Der zweite, im öffentlichen Bewusstsein vielleicht noch wirksamere Kometeneinschlag war der Mord an dem hessischen CDU-Politiker und Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019.
Diese Morde, auch die Anschläge von Halle und Hanau mit insgesamt 12 Mordopfern, haben ein Wissen aktualisiert, ein Wissen, das in keine politi-sche Sonntagsrede passt: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen dient in erster Linie der Bewusstseinsbildung. Als sol-che ist sie anhaltend wichtig und unverzichtbar. Aber: Erinnerung alleine kann neues Unrecht, neue Verbrechen nicht verhindern. Erinnern darf sich nicht bloß mit Geschichte beschäftigen, vielmehr bedarf es auch des steti-gen Fragens, ob unsere Demokratie hier und heute gefährdet ist. Man könnte es auch so sagen: Die Erinnerung an historische deutsche Staats-verbrechen, an vielfaches, überzeugtes und willfähriges Mitmachen soll uns heute sehend machen, soll uns in der Gegenwart dafür sensibilisieren, dass und wo heute Menschen unter die Räder kommen, verachtet, ausge-grenzt, verfolgt und ermordet werden. Insofern: Ist es nicht genauso wichtig, wie wir uns an die Opfer der nationalsozialistischen Pogrome von 1938 erinnern, dass wir zum Beispiel die neun in Hanau ermordeten Mig-ranten im Bewusstsein halten, namentlich, jedes Jahr? Der historische Rückblick dient der moralischen und humanen Sensibilisierung; die Ausei-nandersetzung mit unserer Gegenwart ist jedoch der Ernstfall. Es geht da-bei nicht um Gleichheitszeichen, aber wenn wir hier keine Verbindungen herstellen – ethisch, politisch, verantwortungsbezogen –, dann wird Erin-nern fragwürdig.
Ich frage also zum Schluss grundsätzlich: Wozu brauchen wir die Erinne-rung an die NS-Zeit? Brauchen wir sie wirklich dazu, um uns immer wie-der zu mahnen, dass man den Nachbarn nicht totschlägt? Dazu brauchen wir die Erinnerung nicht. Aber die Erinnerung an die Verbrechen des „Drit-ten Reiches“ hilft uns dabei immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es nicht bloß die Anderen, sondern wir alle es sind, die gefährdet sind. Jan Philipp Reemtsma hat es so ausgedrückt: „Es geht nicht um Erinnerung, es geht um das Bewusstsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man weiß, dass es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozess sei unumkehrbar, von der man also weiß, dass sie immer aktuell bleiben wird.“ So Jan Philipp Reemtsma. – Der Zivilisationsprozess ist umkehrbar, das ist die entscheidende Lehre.
Heute vor 83 Jahren wurden Deutschlands Juden überfallen, über 30.000 Männer verschleppte das NS-Regime in Konzentrationslager: nach Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau. Dort wurden hunderte von Ihnen erschlagen und starben an den barbarischen Zuständen. Die Überlebenden verließen panisch Deutschland und entkamen so gerade noch dem wenig später einsetzenden nationalsozialistischen Völkermord.
„Wir haben fast alles verloren“, schrieb der Philosoph Karl Jaspers im Herbst 1945 in seinem Geleitwort zur ersten Ausgabe der neu gegründe-ten Zeitschrift Die Wandlung. Das von ihm formulierte Ziel, wieder den geistigen Boden zu bereiten, mündete in den Aufruf: „Wir wollen in öffent-licher Diskussion uns der Bindungen bewußt werden, aus denen wir le-ben.“ Dazu sei die Geschichte einer der möglichen Wege: „Was und wie wir erinnern, und was wir darin als Anspruch gelten lassen, das wird mit entscheiden über das, was aus uns wird.“ Zwar sei die Erinnerung nicht alles, aber aus ihr „wird beseelt, was heute zu tun ist“.
Vielleicht ist das die Hauptaufgabe der Erinnerungskultur: aufgrund einer außerordentlichen historischen Zäsur und dem damit verbundenen Wissen ein aktuelles Sensorium für unaufgebbare Werte zu pflegen und so Maß-stäbe für eingreifenden Handeln zu entwickeln. Denn nichts erscheint mir schlimmer, als eine folgenlose Erinnerung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zur Person: Dr. Harald Schmid ist Politikwissenschaftler und Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten, Mit-Herausgeber und -Redakteur des seit 2010 erscheinenden Jahrbuchs für Politik und Geschichte, Vorstandsmitglied u.a. des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland, der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein sowie der Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein. Zahlreiche Publikationen zu den Themen Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus und der DDR, regionaler Zeitgeschichte und politischer Extremismus. Weiterführende Informationen finden Sie hier.