Station 2 – Stolpersteine für Familie Rath

Vortrag des Geschichtsprofils 10h der Stormarnschule

Herzlich willkommen, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gangs des Erinnerns!

Wir haben uns heute hier versammelt, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Was hat an diesem Tag, vor 83 Jahren, stattgefunden? Der 9. November 1938 war ein sehr bedeutsamer Tag in der Geschichte unseres Landes. Schon 1933 hatten die Nationalsozialisten begonnen, jüdische Geschäfte zu boykottieren, und nach der Einführung der Nürnberger Rassegesetze 1935 spitzte sich die Lage in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 drastisch zu. Es wurden Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte zerstört und Hunderte von Juden ermordet. Im Grunde ein erster Schritt in Richtung der systematischen Vernichtung der Juden.
Dies mag für einige sehr fern erscheinen, doch auch Ahrensburg blieb vom Judenhass nicht verschont. Die Nationalsozialisten schändeten die Gräber des jüdischen Friedhofs und setzten die Kapelle in Brand. Und dass wir heute genau hier in der Waldstraße stehen, hat einen bestimmten Grund, denn genau an diesem Ort lebte die Familie Rath – eine Ahrensburger Familie, die ebenfalls von den Anfeindungen gegen die Juden betroffen war.
Um euch und Ihnen einen besseren Eindruck von dem Nationalsozialismus hier in Ahrensburg zu bieten, stellen wir euch und Ihnen nun die Familie Rath vor, die hier direkt nebenan, in der Waldstraße 8, wohnte. An den Stolpersteinen, die zu ihrem Gedenken eingefasst wurden, werden wir nachher noch vorbeilaufen.
Dr. Hugo Rath, geboren in Leipzig, führte ein Leben als sozial engagierter Bürger und Arzt in Ahrensburg. Er lebte dort in der Waldstraße 8 zusammen mit seiner Frau Veronika Rath und seinen beiden Kindern. Davor arbeitete er freiwillig während des Ersten Weltkriegs 4 Jahre als Stabsarzt. Er hatte mit der Zeit in Ahrensburg einen großen Patientenstamm und interessierte sich besonders für Natur-Heilkunde. Sein Ambulatorium war zu dieser Zeit das modernste. Es bot sogar Krankengymnastik, Orthopädisches Turnen und weiteres an. Nach dem Selbstmord seiner Frau hörte Hugo Rath auf, als Arzt zu arbeiten, und fing aus Verzweiflung an zu trinken. Mit 64 Jahren verstarb er und hinterließ seine 2 Kinder.
Veronika Rath wurde 1883 in eine jüdische Familie geboren. Mit 25 Jahren heiratete Veronika einen Kaufmann und bekam einen Sohn von ihm. Ihr Mann starb jung an einem Herzinfarkt. Sie kehrte daraufhin zu ihren Eltern nach Hamburg zurück. Dort steckte ein Dienstmädchen ihre Familie und sie mit Diphterie an. Ihr Sohn und ihre Mutter starben an dieser Krankheit. Sie machte eine Kur, wo sie ihren zweiten Ehemann, Dr. Hugo Rath, kennenlernte. Die beiden heirateten 1914. Mit 36 Jahren bekam sie ihren gemeinsamen Sohn Fritz Ulrich. Veronika zog mit ihrem Mann nach Ahrensburg in die Waldstraße 8. Mit 38 Jahren bekam sie ihre Tochter Dorle. Veronika Rath engagierte sich ehrenamtlich im Frauenverein Ahrensburg. Sie gab Spenden und half zum Beispiel kranken Schwangeren. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, zog sich Veronika Rath aus der Öffentlichkeit zurück. Aufgrund der Diskriminierung und Isolation als Jüdin wurde der Druck für Veronika Rath zu groß und sie nahm sich am 27. August 1938 in der Waldstraße 8 schließlich das Leben. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie, dass sie ihren Kindern und ihrem Mann dadurch bessere Zukunftschancen ermöglichen wolle.
Fritz Ulrich wurde 1919 als Sohn von Dr. Hugo und Veronika Rath geboren. Er ging auf ein Gymnasium und erfuhr dort das erste Mal soziale und schulische Ausgrenzung. Drei Jahre vor Fritz Ulrichs Abitur, also 1935, wurden seine Zukunftspläne erheblich eingeschränkt. Es wurde beschlossen, dass die weiterführenden Schulen und Universitäten für Juden untersagt seien. Die Nürnberger Gesetze hatten auch für die Familie seiner Mutter Folgen, da z. B. seine Tante in die U.S.A. floh. Als er 16 Jahre alt war, wurde sein Vater denunziert und angezeigt. 1938 macht er sein Abitur. Ein Jahr darauf schickte sein Onkel einen Vertrag an Fritz, damit er bei einer Exportfirma als Angestellter arbeitete. Wenige Monate nach dem Angebot verließ Fritz Ulrich Deutschland und reiste ins heutige Sulawesi. Im Mai des nächsten Jahres wurde er von niederländischen Soldaten festgenommen und für 6,5 Jahre interniert, da er als „feindlicher Ausländer“ galt. Am Ende des Jahres 1946 kehrte er zurück nach Ahrensburg und zog zwei Jahre später nach England. Dort bekam er ein Visum für die U.S.A. Daraufhin zog er zu seiner Tante Clara Ehrenberg und lebte bis zum Jahre 1949 bei ihr. In dem Jahr heiratete er Carolyn Forbriger und bekam mit ihr drei Kinder. Bis zu seinem Tod blieb er in den U.S.A. und starb im Jahre 2007 im Alter von 88 Jahren.
Dorle Rath wurde 1921 in der Waldstraße geboren. Sie war das zweite Kind von Veronika und Dr. Hugo Rath. Als Dorle 18 Jahre alt war, machte sie ihr Werkabitur und im selben Jahr eine Ausbildung zur Krankengymnastin und medizinischen Bademeisterin. Ein Staatsexamen wurde ihr als „Halbjüdin“ verwehrt. Eine Woche vor Kriegsbeginn, im August 1939, reiste ihr Bruder aus, sodass sie von nun an alleine mit ihrem Vater in Ahrensburg wohnte. Im folgenden Jahr verstarb dieser in der Waldstraße 8. Dorle erbte das Ambulatorium ihres Vaters und half dort den Patienten. Als Dorle 24 Jahre alt war, wurde sie auf einer Hochzeit als Schlagersängerin entdeckt, unterschrieb einen Plattenvertrag und trat in den folgenden Jahren in Musikfilmen auf. 1953 übernahm Dorle die Leitung des Ambulatoriums. Sie wurde von Bekannten als fröhlich, optimistisch und hilfsbereit beschrieben und habe sich nie über ihr Schicksal beklagt oder viel darüber geredet. Dorle besuchte jährlich ihren Bruder und seine Familie in den U.S.A. und blieb in der Waldstraße wohnen, bis sie dort 1989 schließlich verstarb.

Das Schicksal der Familie Rath hängt vor allem mit einer entscheidenden Denunziation zusammen:
Das tragische Schicksal der Familie Rath begann am 23. September 1935. An diesem Tag war Dr. Hugo Rath für einen Arztbesuch bei der Familie von Bargen in der Manhagener Allee 21. Beim Abschied kam es dann zu einem Streit über die judenfeindliche Politik der Nationalsozialisten zwischen Hugo Rath und Hertha von Bargen und ihrer Tochter Lissi, die an diesem Tag alleine zu Hause waren. Dr. Hugo Rath schilderte diesen Streit in einem Brief so, dass Frau von Bargen ihn in ein Gespräch verwickelte, indem sie sagte, dass Dr. Rath angeblich müde aussähe. Dr. Rath erwiderte, dass er im Moment sehr viel arbeiten müsse und deswegen Urlaub bräuchte. Er wolle nach Glotterbad mit seiner Frau, was er aber leider nicht könne, da sie sicherlich erhebliche Schwierigkeiten als Jüdin bekommen würde. Deshalb hätte er sich dazu entschlossen, mit seiner Frau nach Karlsbad [damals Tschechoslowakei] zu reisen.“ Frau von Bargen antwortete, „…das Judengesetz sei doch keineswegs persönlich, sondern beträfe alle“, woraufhin Dr. Hugo Rath erwiderte, dass es leider Übergriffe auf Juden gäbe und dass es Leute gäbe, die mit sadistischer Freude Juden quälen würden. Frau von Bargen war sehr empört und sah diese Aussage als Verspottung Hitlers und der nationalsozialistischen Regierung an, zu der sie sich bekannt hatte.
Von diesem Gespräch berichteten Frau und Tochter ihrem Mann und Vater, Otto von Bargen. Dieser war nur sechs Tage zuvor von einer Reise zum Reichsparteitag nach Nürnberg zurückgekehrt. 1935 wurden auf diesem Reichsparteitag die sogenannten „Nürnberger Rassegesetze“ verabschiedet. Durch diese Gesetze wurden Juden zu Bürgern „zweiter Klasse“ degradiert, sie durften unter anderem keine „Arier“ mehr heiraten, keine Universitäten mehr besuchen und verloren ihre politischen Rechte. Die Ausübung zahlreicher Berufe war ihnen von nun an verboten. Fanatisiert durch das Erlebnis des Reichsparteitages machte sich Otto von Bargen in den nächsten Wochen und Monaten die Denunziation Hugo Raths zu seiner Aufgabe. Er verfasste zahlreiche Briefe und Stellungnahmen und entwickelte dabei einen fast missionarischen Eifer, Dr. Rath und seine Familie zu verleumden. Wegen dieser Anfeindungen und der psychischen Belastung, die Veronika Rath erleiden musste, nahm sie sich 1938 das Leben.
Otto von Bargen fühlte sich mit seiner Anklage gegen die Raths bis zum Ende im Recht. 1938 reflektierte er rückblickend (Zitat): „Als ich mich mit diesen Dingen jetzt wieder beschäftigte, wünschte ich den alten Kampf noch einmal aufnehmen zu können. Dies ist jetzt aber unmöglich geworden, denn, wie ich vor einigen Tagen hörte, hat sich Frau Dr. Rath vor kurzen Wochen wegen der Entwicklung der Judenfrage in Deutschland das Leben genommen.“
Das Schicksal der Familie Rath sollte uns allen vor Augen führen, wie schrecklich die Taten der Nationalsozialisten waren und dass wir niemals vergessen sollten, was geschehen ist. Filme, Bücher und Geschichten, wie die der Familie Rath, geben uns heutzutage einen genauen Einblick in die Geschehnisse der Vergangenheit. Aber aus erster Hand von jemandem zu hören, der diese Taten miterlebt hat, ist noch eine ganz andere Erfahrung. Und in diesem Fall können wir uns glücklich schätzen, dass uns dies noch möglich ist. Wir hatten die Chance, gestern mit der Auschwitz-Überlebenden Eva Szepesi ein Zeitzeugengespräch zu führen.

Ich denke dieses Gespräch hat uns allen ganz deutlich gezeigt, wie schlimm es allen Betroffenen damals ergangen ist und wie schwer sie darunter gelitten haben. Alleine, ohne die eigene Familie und ohne jegliche Gewissheit, wo es hingeht, von zu Hause weggehen zu müssen und auf der Flucht zu sein, ist für unsere Generation heute schwer vorstellbar. Eva Szepesis Geschichte, ebenso wie die der Familie Rath, hat uns allen nahegebracht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: zu erinnern und alles dafür zu tun, dass dies nicht in Vergessenheit gerät.
Und auch das hat uns Eva Szepesi gestern deutlich gemacht, dass nun, wo auch die letzten Zeitzeugen immer älter werden, es die Aufgabe der jüngeren Generation, also unsere Aufgabe ist, an alle schrecklichen Taten dieser Zeit zu erinnern und zu verhindern, dass so etwas je wieder auch nur im Entferntesten geschehen kann. Aus genau diesem Grund haben wir uns heute ja zu diesem Gang des Erinnerns versammelt. Zudem sind wir als Stormarnschule die Partnerschule von Yad Vashem in Jerusalem, der wichtigsten Holocaust-Gedenkstätte weltweit, die sich die Erinnerung zur Aufgabe gemacht hat.
Eva Szepesi hat uns gestern gesagt, der Holocaust habe nicht erst in den Konzentrationslagern, sondern schon durch die antisemitischen Anfeindungen und Äußerungen auf dem Schulhof und in der Straßenbahn begonnen. Ein respektvoller Umgang miteinander, ein Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung, das muss unser Ziel sein und dazu kann jeder einzelne von uns einen Beitrag leisten.

Alle, die sich für ihre Geschichte interessieren, können sie sich hier ansehen: